Rede anlässlich der Buchpremiere „STOLPERSTEINE IN AURICH“
am 19. September 2018 in Aurich
Was der Bildhauer Gunter Demnig begonnen, über Jahre fortgesetzt und noch lange nicht abgeschlossen hat, ist eine Leistung aller Ehren wert, nämlich die Schaffung des größten Flächendenkmals für die verfolgten, verjagten und verfemten Opfer des nationalsozialistischen Terrors. Das Wort Opfer möchte ich aber relativieren, bedeutet es doch vor allem das passive Erdulden ungeheuren Unrechts, das man eher wehrlos erleidet. Viele von ihnen haben aktiven Widerstand geleistet bis hin zum direkten Kampf gegen den Terror, wie aussichtslos er auch erschienen haben mag. Und dagegen steht das unsägliche Wegschauen braver Bürger bis zum grotesken Schreien: „Ja, wir wollen den totalen Krieg!“
Das ist glücklicherweise alles schon sehr lange her, mindestens 75 Jahre. Sollte da nicht endlich ein Schlussstrich gezogen werden? Nie, nie darf das geschehen, weil dann geschieht, was schon einmal geschehen ist. Erinnern tut not. Gunter Demnig lehrt es uns unermüdlich. Und mit ihm viele engagierte Bürgerinnen und Bürger, welche die Archive durchforschen und die Überlebenden befragen und die aus eigener Erinnerung wichtige Informationen beisteuern. Die Stolpersteine geben den zu Nummern Degradierten ihre Namen zurück.
Gedenken an die Opfer des Holocaust ist im Sinne des Wortes not-wendig. Aber das genügt nicht, reduziert es doch das jüdische Leben auf diese furchtbare deutsche Epoche, von einem verantwortungslosen Politiker als „Fliegenschiss“ abgetan. Ich bin für Denken, für Mit-denken; denn wenn schon von deutscher Leitkultur die Rede sein soll – ein Begriff, mit dem ich nicht viel anfangen kann –, so gehört der immense Anteil jüdischer Wissenschaftler, Künstler, Ärzte, Industrieller und Schriftsteller dazu. Ja, die ganze Vielfalt jüdischen Lebensgefühls, das Teil dieser deutschen Kultur ist und ohne die deutsche Kultur um Vieles ärmer wäre.
Das war der Ausgangspunkt für Überlegungen, die wir im Eckhaus Verlag Weimar angestellt haben mit dem Ergebnis, dass wir auch die Lebensgeschichten wieder hervorheben wollen aus der Dunkelheit faschistischer Nacht.
Erzählen, Weitersagen, Zeugnis ablegen über die Schicksale der Menschen. Wir, die ältere Generation, sind verpflichtet, unser Wissen und unsere Erfahrungen an die Nachgeborenen weiter zu geben. Dabei geht es nicht darum, Schuldgefühle zu implantieren, sondern Verantwortung zu beweisen, denn, wie Brecht sagt: „Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch.“ Wir lesen, wir hören es täglich und leider immer häufiger. Da kann sich sogar ein thüringischer Abgeordneter ungestraft hinstellen und von einem „Denkmal der Schande“ schwadronieren.
Wir haben uns im Verlag entschieden, eine Buchreihe über die Lebensgeschichten jener Menschen aufzulegen, an welche die Stolpersteine erinnern. Zielgruppe sind in erster Linie junge Menschen, damit sie, was sie im Geschichtsunterricht lernen, als Einzelschicksale erfahren können. Er-zählen ist überzeugender als das Auf-zählen von Zahlen, die so ungeheuerlich sind, dass man sich die Schicksale Einzelner gar nicht vorstellen kann.
Das bereits erschienene Buch über die Stolpersteine in Weimar hat uns in unserer Absicht bestärkt, ähnliche Publikationen auch mit anderen Städten in Angriff zu nehmen. Es sind bisher 25 deutsche Städte, die unsere Anfrage positiv beantwortet haben. Aurich, und das freut mich besonders, ist das zweite Buch, das soeben erschienen ist. Gelsenkirchen, Arnstadt und Plauen werden im kommenden Jahr folgen.
Die Bücher werden in Klassensätzen zu jeweils 30 Exemplaren kostenlos an Schulen, Religionsgemeinschaften und interessierte Organisationen abgegeben. Auch die Buchhandlungen – besonders im Raum Aurich – werden bedacht. Die notwendigen Mittel, um die Druckkosten abzudecken, wurden durch Sponsoring akquiriert. Wir haben mit besonderer Freude feststellen können, wie gut das in Aurich funktioniert hat. Respekt allen an der Organisation Beteiligten! Alle weiteren Kosten, die mit der Herausgabe der Bücher verbunden sind wie Lektorat, Bildbearbeitung und Layout übernimmt der Verlag auf eigene Rechnung; denn von vornherein haben wir uns entschieden, nicht auf wirtschaftlichen Erfolg zu setzen. Das verbietet allein der Gegenstand. Der Verlag muss seine Mittel mit anderen Produktionen erwirtschaften.
Als Herausgeber der Buchreihe möchte ich mich persönlich bei all jenen bedanken, die mit ihrer ehrenamtlichen Arbeit dieses Buch erst möglich gemacht haben. Ich hoffe, es gelingt der Arbeitsgruppe, für die weiteren Forschungen auch jüngere Personen einzubeziehen oder, wie ich neulich in einer Veranstaltung vor dem Freundeskreis jüdischen Lebens in Jena sagte: Bringen Sie das nächste Mal Ihre Kinder und Enkel mit.
Wie wichtig das Erinnern und Weitergeben von Erinnerungen ist, möchte ich mit einer kleinen Begebenheiten beschreiben. Die in London lebende fast 90-jährige Eva Schloss hat in ihrem in unserem Verlag erschienenen Buch „Amsterdam, 11. Mai 1944. Das Ende meiner Kindheit“ erzählt, wie sie an ihrem 15. Geburtstag in Amsterdam verhaftet und mit ihrer gesamten Familie nach Auschwitz deportiert wurde. Nur sie und ihre Mutter haben das Grauen überlebt. Nach der Befreiung durch die Rote Armee kamen sie nach Amsterdam zurück, wo sie einen alten Bekannten wieder trafen: Otto Frank, den Vater von Evas Kinderfreundin Anne. Otto Frank und Evas Mutter heirateten in den 50er Jahren, Eva ist also Annes posthume Stiefschwester. Viele Jahre konnte Eva nicht erzählen, was sie hat erleben müssen. Bis es eines Tages aus ihr herausbrach. Seither reist sie durch die Welt, spricht besonders gern vor jungen Menschen und schafft es mit ihrer unvergleichlich charmanten Art, ihr Publikum nachdenklich zu machen und zu begeistern. Ich habe es wiederholt erlebt, wie sie vor vielen hundert Schülern gesprochen hat. Und jedes Mal hätte man die berühmte Stecknadel fallen hören können.
Sie war in Weimar. Der Saal fasste 250 Besucher, meist junge Leute. Gut 100 Interessierte konnten nicht mehr eingelassen werden. Eva sprach und alle hörten gebannt zu.
Am nächsten Morgen lag der Brief einer 16-jährigen Schülerin in ihrem Hotelpostfach. Sie schrieb an Eva, wie tief sie der Abend beeindruckt hat, so sehr beeindruckt, dass sie ihre Mutter endlich fragen konnte, was zu fragen sie sich all die Jahre nicht getraut hat. Sie wollte wissen, was ihr Großvater, den sie liebte, im Krieg gemacht hat.
Und die Mutter antwortete: „Er war ein Verbrecher. Er hat unschuldige Menschen getötet.“ So furchtbar dieses Geständnis auch war, schrieb das Mädchen an Eva Schloss, aber jetzt wisse sie die Wahrheit, und das ist immer besser als die wohlmeinendste Lüge.
Auf eine Besonderheit möchte ich noch aufmerksam machen, die das Aurich-Buch und das Weimar-Buch verbindet. Laura Hillman, in Aurich geboren als Hannelore Wolff und auch mit einer Biografie im Aurich-Buch bedacht, kam mit ihrer Familie aus Aurich nach Weimar und wohnte dort am Brühl im sogenannten Judenhaus, bevor sie deportiert wurden. Zufälle sind die Launen der Geschichte.
Unsere Hoffnung ist, dass vor allem die jungen Leser des Buches über die Stolpersteine in Aurich ihre Eltern und Großeltern fragen und eine ehrliche Antwort bekommen.
Nach einem Vortrag von Eva Schloss in einem Mainzer Gymnasium fragte eine Schülerin, was man denn als einzelner Mensch tun könne. Darauf antwortete sie: „Eine Stimme kann überhört werden, aber viele Stimmen sind ein Chor.“
Ich singe gern im Chor.
UV, 2018