Als die DDR 1989 zu Ende ging, wurden, wie das bei Umstürzen aller Art üblich ist, auch Dinge und Menschen „entsorgt”, die bis dahin – aus welchen Gründen auch immer – etwas galten. Literatur hatte in der DDR einen hohen Stellenwert, nicht immer wegen der Literatur, sondern weil in ihr gelegentlich etwas stattfand, was die Leser in der Wirklichkeit schmerzlich vermissten: Auseinandersetzung mit den „Dingen des täglichen Bedarfs”. Ich rede nicht von Gegenständen. Manche Bücher oder Filme oder Theaterstücke wurden hoch gehandelt, weil auf Seite 36, dritte Zeile von unten etwas stand, was im ND nie gestanden hätte. Man kann den Schriftstellern anlasten, dass sie sich zu sehr in die Niederungen des DDR-Alltags begeben hätten, denn gut für Literatur ist so etwas nicht, aber haben sie damit nicht so etwas wie Lebenshilfe geleistet in einem Land, das es wert gewesen ist, älter als 40 Jahre zu werden?
Ich habe die DDR gewollt. Nicht so, wie sie geworden ist, aber wie ich wünschte, dass sie werden möge. Eine Illusion, ja, welche vor allem auch jenen geholfen hat, die – längst aller Illusionen bar – nur noch Herrschaft wollten. Die Revolution hatte ihre Kinder längst gefressen. Man traf sich im Magen der Herrschenden wieder und wollte denen Bauchgrimmen verursachen. Das war manchmal, halten zu Gnaden, zum Kotzen. Aber darum geht es mir auf dieser Seite nicht. Es sollte nur die Vorrede sein.
Die DDR war gewesen. Ganze Buchhandlungen und Bibliotheken wechselten über Nacht die Bestände aus. Was bis dahin wichtig schien und oft nur unter dem Ladentisch gehandelt wurde, taugte nicht für die neue Zeit, die eine andere Zeit war, nicht unbedingt eine bessere, wie sich herausstellen sollte. Aber es war so viel Hoffnung. Und da hatte DDR-Literatur nichts mehr zu sagen, weil wir Autoren noch keine neuen Antworten wussten, ja, und das ist heftiger, weil wir Autoren noch nicht die richtigen Fragen stellen konnten.
Und die Verlage wurden reihenweise verkauft, verscherbelt, muss man sagen. Einer meiner Verlage hatte kurz vor der Währungsumstellung schnell noch ein Buch von mir aufgelegt, 30.000 Exemplare, und einen Tag vor dem Umrubeln das komplette Honorar gezahlt. Als der Verkauf einsetzte, war ich abgegolten. Die Einnahmen in nunmehr Westmark kassierte der Verlag. Was soll’s. Es war eben so. Und ich war nicht allein damit.
Irgendwann wurde die Luft dünner. Ich hatte keinen Verlag mehr. Fernsehen, Rundfunk, DEFA, Theater – zum Teil mit neuen Leuten besetzt (oder soll ich sagen: von). Freundliche Absagen waren die Ausnahme. Keine Antwort auf unverlangt eingesandte Manuskripte. Der Gang zum Arbeitsamt. Der Beamte war sehr nett und ein wenig verzweifelt, weil er mir nicht helfen konnte, denn das Arbeitsamt war für einen Selbstständigen nicht der richtige Ort. „Sie müssten sich an das Sozialamt wenden, leider.”
Ach was, ich blicke nicht zurück im Zorn. Ich erzähle nur, wie es war. Unterkriegen, nein, unterkriegen lassen wollte ich mich nicht. Die Zeitungen durchblättern mit Seiten, die wir nicht kannten. Stellenangebote, Stellensuche. Dorthin gefahren, dahin gegangen. Ich hätte einen Job haben können. Job heißt das jetzt. Früher hieß das Arbeit. Nicht nur ein anderes Wort. Vertreter, Berater – Bescheißer. Das war mein Ding nicht. Da setzte ich selbst eine Anzeige in die Zeitung. „Vormals relativer erfolgreicher Schriftsteller sucht Arbeit. Ich kann nicht wählerisch sein.” Die Reaktionen waren sehr unterschiedlich. Manche schrieben mir, dass es dem roten Schreiberling (sie kannten mich nicht, ich hatte mit einer Chifre inseriert) nur recht geschieht, dass er jetzt auf der Straße steht. Andere bedauerten mich und schilderten ihre eigene, in den meisten Fällen viel schlechtere Lage. Manche kamen natürlich auch mit verlockenden Angeboten, von denen ich mir einige angesehen habe. Und dann ein Brief vom „Eulenspiegel”. Da gab es einen pfiffigen Redakteur, der meine Aktion begriffen hatte. Das brachte mir immerhin die eine oder andere Veröffentlichung ein. Zum Leben zu wenig, aber immerhin – gedruckt.
So saßen wir eines Tages wieder einmal beisammen, einige Kollegen aus Weimar. Und da entstand die Idee, die kleinste Zeitung der Welt herauszugeben, limitierte Auflage zehn Stück. Völkel, du hast doch einen Computer. Es machte Spaß, das Blatt zu basteln und die knappen Texte der Freunde einzuspiegeln. Mit von der Partie waren Harry Thürk, Inge von Wangenheim, Armin Müller, Kurt Kauter, Dieter Beetz und Wolfgang Held. Wie soll das Blatt heißen? Ich blätterte spielend im atari, in dem ein Katalog von Bildern installiert war. Plötzlich, Moment mal, zurückblättern. Ein Nashorn? Ja! Albrecht Dürers Rhinozeros, das ist es! Wehrhaft, fruchtbar, Einzelgänger, von Madenhackern (Lektoren) heimgesucht, großes Revier… Und also hieß das Blatt „Rhinozeros”, das sich bald großer Beliebtheit erfreute und mangels Masse schon kopiert und weitergegeben wurde. Allerdings floss keine müde Mark dafür. Und es artete immer mehr in Arbeit aus. Kunst geht nach Brot.
Der Künstler will Brötchen.
Bei meiner zur Gewohnheit gewordenen Lektüre im Anzeigenteil fand ich eine Werbeagentur, die einen Texter suchte. Ich rief an. Ich bekam den Job. Es gibt Leute, die haben die Nase gerümpft oder sich heimlich eins ins Fäustchen gelacht. Ich hatte einen Job und ich habe damit auf anständige Weise Geld verdient. Freilich, für alle Zeiten war das nicht gedacht. Schließlich hatte ich eine Idee. Und weil ich nicht wollte, dass ein fremder Verlag sich damit eine goldene Nase verdient (meine Vorstellungen waren damals so naiv), sagte ich mir: Bist du Gottes Sohn, so hilf dir selbst. Und gründete einen Verlag, in welchem ich meine „77 Restaurants und Rezepte in Thüringen” herausbringen konnte. Damit hatte ich etwas Startkapital – immerhin 15.000 verkaufte Exemplare.
Der Verlag musste einen Namen haben. Ulrich Völkel Verlag? Nein. Neuer Thüringer Verlag. Nein. Verlag Zukunft oder so etwas Optimistisches? Das schon gar nicht. Da kam der Grafiker Frank Naumann, den ich von der Agentur her kannte und der mein „Rhinozeros“ kannte. Er zeigte mir ein paar Logos mit dem Nashorn als Wappentier. So preiswert, sagte ich, komme ich nicht mehr an ein Logo. Und der Grafiker hatte für zwölf Jahre ein – nicht üppiges, aber immerhin ein unregelmäßiges – Einkommen. Er hat die meisten der im RhinoVerlag erschienenen Bücher gestaltet, gut gestaltet, darf ich sagen.
Selbstständig heißt: selbst und ständig. Mehr als 25 Stunden am Tag kann man nicht arbeiten. 127 Bücher sind in diesen Jahren erschienen. Ich war mein Chef und mein Pförtner, mein Chauffeur und mein Hauptbuchhalter, mein Arbeitgeber und mein Arbeitnehmer. Ohne die Unterstützung und das Vertrauen meiner Frau wäre das gar nicht gegangen. Jedem Motor gönnt man seine Ruhephasen. Was ich einmal über die Expropriation der Expropriateurs bei Karl Marx gelesen hatte, drehte sich seltsam gegen mich: Selbstausbeutung, Raubbau. Das rächte sich.