Weimar. (tlz) Mit einer launigen Rede überraschte der Präsident der Stiftung Weimarer Klassik, Hellmut Seemann, bei der Präsentation des Buches „Kleines Lexikon Weimarer Persönlichkiten“. Die TLZ dokumentiert diese Rede im Wortlaut.
Lexika sind etwas Herrliches. Sie laden Leute zum Surfen ein, die online nur sind, wenn’s anders nicht geht, und die doch auf diese interesselose Fortbewegungsart, das Surfen eben, ungern verzichten.
A wie Asendorpf, Bartold
B wie Bauer-Pezellen, Tina
C wie lassen wir jetzt mal aus.
Kleine Lexika haben einen nicht ungewichtigen Nachteil: sie könnten klein sein.
D wie Deetjen, Werner
E wie Eggerath, Werner
F wie Finger, Friedrich
Vorliegend allerdings handelt es sich um ein kleines Lexikon Weimarer Persönlichkeiten, also eigentlich ein kleines Lexikon großer Persönlichkeiten. Wie bekannt gibt es in Weimar eigentlich nur große Persönlichkeiten. Je kleiner Weimar, desto größer die Persönlichkeiten.
G wie Gerstung, Georg Ferdinand
H wie Hoppe, Walter
J wie Jericke, Alfred
Weimar ist groß, weil es klein ist. Deshalb kann man hier sogar über kleine Lexika groß denken, die mir eigentlich ein Graus sind und mir so gegen den Strich gehen wie dem Surfer die Kleinwelle. Kleine Lexika bringen einen in der Regel einfach nicht weiter.
K wie Krämer, Walter
L wie Lattke, Fritz
M wie Malberg, Hans-Joachim
Aber will man in Weimar überhaupt weiter? In Weimar ist man doch endlich am Ziel angekommen, Jetzt bloß nicht über Weimar surfend hinausschießen.
N wie Nohl, Johannes
O wie Oehler, Max
P wie Paul, Rudolf
Das Schönste an Weimar ist vielleicht, daß hier eine Bürgerschaft lebt, die alles über Weimar weiß. Alle erzählen sich hier ständig, was sie schon wissen.
Q wie Quensel, Paul
R wie Rasch, Kurt
S wie Schneider, Wolfgang
Und am meisten weiß man in Weimar über das Leben im 18. Jahrhundert. Die Pyramide des Wissens steht auf dem Kopf. Was zeitlich weit weg ist, hat hier breite Präsenz. Was zeitlich präsent ist, schert keinen etwas. Deshalb fangen die Weimarer jetzt, wo der 100. Geburtstag des Bauhauses näher rückt, an, sich für das Bauhaus heftig zu interessieren. In wenigen Jahren werden sie alles über das Bauhaus wissen.
T wie Trautermann, Karl
V wie Victor, Walther
W wie Wentscher, Dora
Lexika sind etwas Herrliches!
Kein Eintrag zu X
Kein Eintrag zu Y
Z wie Ziegler, Hans Severus.
Wie wird man im Sinne des Kleinen Lexikons eine Weimarer Persönlichkeit? Ja, wie schon gesagt, am besten, wenn Sie schon lange tot sind. Weimarer Persönlichkeiten sind zuallererst einmal tote Persönlichkeiten. Deshalb brauchen Sie jetzt auch gar nicht so neugierig herüber zu schielen, Nein: Sie stehen nicht drin, obwohl Sie gewiß auch eine ’ Gut und schön: der Herausgeber, Herr Ulrich Völkel, hat hier eine guillotinenscharfe Grenzlinie gezogen. Solange Sie noch krabbeln können, sind sie keine. Das war eine kluge Entscheidung. Herr Völkel wäre ja seines Lebens nicht mehr froh geworden, wenn er eine lebende Persönlichkeit verzeichnet und eine andere verschmäht hätte. Denn da sich alle Weimarer Bürger ständig mit Weimarer Persönlichkeiten, die per definitionem große Persönlichkeiten sind, beschäftigen, wächst ihnen nach und nach etwas vom Gegenstand ihrer Beschäftigung zu: sie werden zu Persönlichkeiten und zwar notgedrungen zu großen.
Spaß beiseite: So leicht werden Sie mir nicht entkommen. Ich habe Sie alphabethisch durch das Lexikon geführt. Sie wissen: Lexika sind etwas so Herrliches, daß man einst das Alphabeth eigens erfunden hat, um Lexika verfassen zu können. Von A wie Asendorpf bis Z wie Ziegler habe ich Sie mit Einträgen konfrontiert. 26 Buchstaben sind es, C hatten wir ausgelassen, I ist gleich J, U ist gleich V, zu X und Y fällt keinem Personen-Lexikon, ob groß, ob klein, etwas ein: 26 minus 5 macht 21. 21 Weimarer Persönlichkeiten habe ich Ihnen genannt. Wie viele kannten Sie? Von B wie Bauer-Pezellen bis W wie Wentscher. Wir können sie alle der Reihe nach einmal durchgehen. Ich wette, daß keiner von Ihnen zu mehr als einem Drittel der Namen sachdienliche Hinweise geben kann. Außer vielleicht der Autor und sein Verleger. Die haben Sie auf dem linken Fuß erwischt. Alle diese 21 Persönlichkeiten lebten die längste Zeit ihres Daseins im 20. Jahrhundert, und im 20. Jahrhundert ist Weimar, was die Kenntnisse seiner Bürgerschaft anbelangt, schwach auf der Brust. Trautermann?, Eggerath?, Malberg? ’ nun, ich merke schon, Sie raten. Eckermann!, Kotzebue!, Lengefeld! da kämen die Antworten wie aus der Pistole geschossen. Das kleine Lexikon stellt, wenn schon nicht auf dem cover, so doch im Inhalt, die Behauptung auf, daß es auch im 20. Jahrhundert Weimarer Persönlichkeiten gegeben habe. Das ist unbedingt als Verdienst des Bandes zu würdigen. Ich habe den Selbstversuch gewagt und bin das Buch systematisch durchgegangen: Ich fand 37 Personen, von denen ich noch nie gehört hatte, mehr als die Hälfte davon, nämlich 21, lebten vornehmlich im 20. Jahrhundert.
Da ich weiß, daß ich vor lauter Weimarer Persönlichkeiten spreche, würde ich am liebsten gleich ein weiteres Experiment machen. Es ist nämlich ein erstaunliches Faktum: Lexika erreichen in Deutschland die Mitte ihres Volumens üblicherweise bei dem Buchstaben L. Das ist der 12. Buchstabe in der Reihe der 26. Beim kleinen Lexikon Weimarer Persönlichkeiten weicht dieses Gesetz spezifisch ab: Schon beim Buchstaben H, Nummer 8 in der Reihe der 26, ist die Mitte erreicht. Jetzt würde ich gern mal wissen: Alle Persönlichkeiten deren Familienname mit den Buchstaben A bis H beginnt, stehen bitte mal kurz auf. Sollten Sie sich weimargerecht zusammensetzen, müßten Sie genau die Hälfte unserer Versammlung ausmachen.
Lexika haben viel mit Statistik zu tun. Welchen Wert ein Lexikon hat, wes Geistes Kind es ist, kann man oft aus zahlenmäßig zu erschließenden Grunddaten ablesen. Diese Grunddaten habe ich erhoben. 285 Persönlichkeiten werden vorgestellt, darunter, um genau zu sein, zwei Familien: die Hofbeamtensippe Kirms und die Gärtnerdynastie Sckell. 246 von diesen insgesamt 285 sind Männer. Nur 39 Frauen haben es zu einer Weimarer Persönlichkeit gebracht. Zieht man von diesen 39 wiederum die 10 ab, die als Mitglieder der Monarchie oder als Hofdamen zu lexikalischem Ruhm gelangten, rechnet man also nur die Frauen mit, die ’ es geht doch um die Persönlichkeit! ’ um ihrer selbst willen, also als Individuen der Weimarer Geistesrepublik ihren Ruhm eroberten, sinkt die Frauenquote auf unter 10 Prozent ab. Ganze 29 Frauen. Die Weimarer Persönlichkeit ist männlich. Mathilde von Freytag-Loringhoven, die in eheähnlicher Beziehung mit ihrem Hund Kuno von Schwertberg, gen. Kurwenal, lebte, wußte das und ließ sich als Motorradfahrerin ablichten. Sie hat es problemlos in die Hall of Fame geschafft. Ihr Ruhm, Fürsprecherin der ästhetischen Reaktion gewesen zu sein, bleibt übrigens unerwähnt. Erfreulicherweise hingegen nicht, daß sie ihrem Lebensgefährten in der Marienstraße 18 einen Gedenkstein errichtete.
Wie wird man eine Weimarer Persönlichkeit? Zurück zur Statistik. Von den 285 Erwählten wurden nur 42, gerade mal 15, in Weimar geboren. Und keine 10 sind hier sowohl geboren als auch gestorben, nämlich ganze 27. Umgekehrt wurden 100 Weimarer Persönlichkeiten weder hier geboren, noch sind sie hier gestorben. Vielleicht die glücklichste Teilgruppe? Die stärkste jedenfalls nicht. Denn das, genau die Hälfte aller Erwähnten gehört ihr an, 143 ganz genau gesagt, ist die Teilgruppe derer, die hier nicht geboren, wohl aber gestorben sind. Als Weimarer Persönlichkeit in spe sollten Sie mithin alles tun, um hier nachzuziehen. Statistisch wächst die Wahrscheinlichkeit, daß Sie ins Lexikon einziehen, auf diese letale Weise am glücklichsten. An diesen Fakten muß es liegen, der Schweizer Schriftsteller Matthias Zschokke hat es in seiner Erzählung ’Auf Reisen’ gerade erst wieder unterstrichen, daß Weimar, ’melancholisch zum Umarmen’, zum Urort deutscher Schwermut, wenn ich so sagen darf, aufgestiegen ist. Natürlich liegt das auch daran, daß hier wohl nachgestorben, aber kaum nachgeboren wird. Keine 15 , sagte ich, sind hier geboren. Aber im 20. Jahrhundert kommen in Weimar nur noch drei Persönlichkeiten an Ort und Stelle zur Welt: Jutta Hecker, 1902, Kurt Rasch, 1904 und dann noch Baldur von Schirach, 1907 gegenüber 53, die hier sterben. Wenn das so weitergeht, werden wir uns im 21. Jahrhundert als Weimarer Persönlichkeiten ganz aufs Ableben beschränken: der Trend jedenfalls ist ungebrochen.
Buchpremiere im bistrot français am 24. Juni 2009 (v.l.n.r.: Ulrich Völkel, Hellmut Seemann, Präsident der Klassik Stiftung, Hans Hoffmeister, TLZ-Chefredakteur, Michael Maaß, Verleger)